Musik
Der Gregorianische Choral in Kiedrich
GREGORIANISCHER CHORAL
Rainer Hilkenbach (+ 2016)
I. Der „Germanische Choraldialekt" in seiner Geschichte
Der Terminus „Germanischer Choraldialekt" als Gegensatz zum „Romanischen Choraldialekt" wurde von Peter Wagner (1865 - 1931) geprägt und dokumentiert eine nach bestimmten melodischen Gesetzen veränderte Intervallstruktur. Sie betrifft den höchsten Ton in einer zwei- oder dreitönigen Neume (griech.: nevma = der Wink, das Zeichen) über dem nur ein Halbtonintervall liegt, z.B.: e, h und a unterhalb von b (aus Verständlichkeitsgründen wird in diesem Bericht auf die wissenschaftlich korrekte Solmisationsangabe verzichtet); die Sekunde wird zu einer kleinen Terz. Damit hatte man die Intonationationsprobleme aufgefangen, die beim Singen einer kleinen Sekunde nach einem großen Intervall (z.B. Quinte) oder in der Folge nach mehreren großen Sekunden aufgetreten waren. Bisher nahm man an, daß das älteste Zeugnis des „Germanischen Dialektes" die Handschrift 807 der Universitätsbibliothek Graz, Graduale von Klosterneuburg (eigentlich Passau), geschrieben in Metzer Notation im 12. Jh., ist. Doch gibt es Beweise, daß bereits gut 200 Jahre früher diese oben beschriebenen Phänomene auftraten und auch bekannt waren.
So schreibt im 9. Jh. Aurelian von Réomé, daß die sogenannten „palatini", die kaiserlichen Kapellsänger, die O-Antiphonen der Adventszeit nicht im Protus plagalis (2. Ton), wie allgemein üblich im Mittelalter, sondern im Protus authenticus (1. Ton) „ob excelsiorem vocis modulationem" (wegen der Erhöhung des Tones) sangen (GerbertS I, 45 b). In der Aachener Pfalzkapelle sang man also auf „fortiter": a-c-a statt a-h-a. Von der Umwandlung h nach b bei den „Itali vel Romani" im Gegensatz zum c bei den „Teutonici" berichtet auch Theoger, der von 1117 - 1120 Bischof von Metz war (GerbertS II, 212). In der zweiten Hälfte des 11. Jh. schreibt Aribo Scholasticus eindeutig über diese deutsche Eigenart: „Uns (im Norden) gilt das sprunghafte Fortschreiten der Melodie mehr als den Lombarden (= Italienern); diese erfreut die mehr schrittweise Melodie (spissior cantus), während wir von der mehr sprunghaften Bewegung (rarior cantus) angesprochen werden" (GerbertS II, 212). Der wichtigste Zeuge für einen so frühzeitigen „Germanischen Dialekt" scheint aber der Codex 121 zu sein, ein Graduale der Bibliothek Einsiedeln, der nach 934 in Einsiedeln in St. Galler-Notation geschrieben worden ist und als farbiger Faksimiledruck in hervorragender Druckqualität im Jahre 1991 erschien. Die Handschrift Einsiedeln ist insofern wichtig, als sie die meisten Zusatzbuchstaben für die Ausführung des Gregorianischen Chorals enthält. Sie diente als Vorlage des Graduale Triplex, das 1979 veröffentlicht wurde. Der Codex 121 ist in adiastematischer Handschrift notiert, d.h. - im eigentlichen Sinn - nicht Töne. Obwohl sie auf- und abwärts gerichtete Tonfolgen andeutet, ist ihr die absolute Tonangabe nicht wichtig. Der gregorianische Gesang war einst im Geist spirituellen Lebens der Mönche fest verwurzelt und wurde auswendig, wie der Hl. Benedikt in seinen Regeln vorschreibt «ex corde», vorgetragen. Die Handschrift gibt vielmehr den rhythmischen Verlauf an und hat demnach auch keine Notenlinien. Zwei Buchstaben aus der Vielzahl der Zusatzzeichen führten zu einer interessanten Beobachtung in der Wiedergabe eines Torculus (lat.: torquere - drehen, dreitönige Neume, Tonfolge: tief-hoch-tief): (= levare höher 'heben') und (= sursum - nach oben, höher). Wieso benutzt der Scriptor von Einsiedeln diese beiden Buchstaben bei den kleinsten möglichen Intervallschritten? Zu erwarten sind diese Zeichen nach den Gesetzmöglichkeiten des Torculus erst bei größeren Intervallen. Die Editio Vaticana, deren Authentizität hauptsächlich auf dem Codex H 159 der medizinischen Fakultät Montpellier (Tonar des Graduale von Saint-Bénigne in Dijon, geschrieben im 11. Jh., doppelte Notation, adiastematische französische Notation, darunter Buchstabennotation von a bis p zur genauen Angabe der Intervalle) beruht und zu ihrer Rekonstruktion im 19. Jh. diente, gibt an den betreffenden Stellen nur einen Halbton an. Die diastematischen (mit Notenlinien) Handschriften (im besonderen Klosterneuburg und Codex Verdun 759, Missale von Saint-Vanne in Verdun, erste Hälfte des 13. Jh.) stützen die Schreiber von St. Gallen und Einsiedeln, in dem sie durchweg an diesen Stellen c bzw. g wiedergeben.
Im 17. Jh. entstand die Meinung, die sich bis in die jetzige Zeit hält, daß der „Germanische Dialekt" eine Mainzer Erscheinung sei; die Begriffe mainzisch bzw. gregorianisch-mainzisch wurden geprägt („Manuductio ad cantum Gregoriano-Moguntinum", 1672 des Würzburger Domorganisten Kilian Heller). Diese örtliche Einschränkung ist auf jeden Fall zu eng gefaßt. Die im vorhergehenden Absatz genannten Codices Klosterneuburg 807 und Verdun 759 stehen in Metzer Notation und lassen die Tatsache zu, daß auch außerhalb des St. Galler Bereiches der „Germanische Dialekt" möglich war. Geht man davon aus, daß auch die Engländer zu den Germanen zählen, aber nur spärlich die „deutsche" Fassung annahmen, so ist die nördlichste Grenze abgesteckt. Die Westgrenze verläuft ungefähr mit dem Rand des frz. Sprachgebietes. Mit immerhin bemerkenswertem deutschen Einschlag zieht sich ein breiter Gürtel vom Atlantik nördlich der Loire bis nach Elsaß-Lothringen. Im Süden bildet ebenfalls die deutsche Sprachgrenze die Trennung. Mischgebiet ist das ital.-slowenische Grenzgebiet Friaul mit dem alten Patriarchat Aquileia und seinem italienischem, deutschen und slowenischen Klerus. Die slawischen Grenzlande im Osten und mit einigen Ausnahmen die Ostseeländer folgen der „deutschen" Leseart. Mit deutschem, lateinischem und tschechischem Text gelangte die deutsche Fassung in den Gesangsschatz der Reformation. Wie allgemein bekannt, wird der „Germanische Dialekt" nur noch in Kiedrich mindestens seit 1333 gesungen, und bei den Schweizer Benediktinern wird er durch das „Antiphonarium monasticum" seit dem Jahre 1943 wieder neu belebt.
II. Blütezeit und Dekadenz
Die Mitte des 8. Jh. ist wohl die hohe Zeit des Gregorianischen Chorals, ausgehend von Metz. Erste Handschriften, die allerdings nur die Texte der Gesänge wiedergeben, sind mit Ausgang des 8. Jh. überliefert. Melodieverläufe, zuerst an den Rand der Textbücher geschrieben, dann später über einzelne Wörter, scheinen nicht vor dem Ende des 9. Jh. aufgeschrieben worden zu sein. Die vielen Melodien mit ihren diffizilen Vortragsnuancen, die bis zum 9. Jh. mündlich tradiert wurden, erfuhren ihre ersten detaillierten Niederschriften ab dem 9. Jh. in verschiedensten Neumennotationen und Dialekten. Melodische Veränderungen und Nivellierungen der rhythmischen Feinheiten in Bezug auf das Wort sind in verschiedensten Handschriften wiedergegeben. Die Dekadenz des Gregorianischen Chorals nimmt hier bereits ihren Anfang. Gleichermaßen mit der Baukunst von der intimen Sphäre einer frühkarolingischen Kapelle, in der der Gregorianische Choral entstand, zu den gewaltigen Ausmaßen einer ottonischen Basilika verändern sich die Handschriften. Die Neumenzeichen werden größer, plakativer; der Gesang wird lauter, sonst würde er den größeren Kirchenraum nicht füllen. Die vielen Feinheiten der verschiedensten Neumenzeichen mit ihren wichtigen Zusatzbuchstaben für eine gerechte Interpretation der musikalischen Darstellung von Gottes Wort verschwinden; der Gesang wird äqualistisch. Die Bücher, aus denen die Schola singt, nehmen immense Ausmaße an, haben z.T. so „unhandliche" Größen, daß man sie für den Transport mit Rädern versehen mußte, und werden so zu einem objektiven Gegenüber. Der Codex Einsiedeln 121 dagegen, geschrieben nach 934, kommt mit Taschenbuchgröße aus. Die Schriften enden im 15. Jh. in der bekannten Quadrat- bzw. Hufnagelnotation. Mögen diese Choralbücher auch noch so schön mit Initialbildern und Florencen ausgeschmückt sein und dadurch zu wertvollen Dokumenten werden, so ändern diese Kunstwerke nichts an der Tatsache, daß der Gesang, der vom Gefühl für lebendige Sprache, nämlich Gottes Wort, gezeugt wurde, im wahrsten Sinne des Wortes mit diesen Büchern zum «cantus planus» wurde. Auch der Codex A, ein im Kiedricher Handschriftenmuseum aufbewahrtes großartig ausgeschmücktes Graduale Romanum, welches ungefähr 200 Jahre vor der Vollendung des Kiedricher Kirchbaus im Jahre 1493 im Mainzer Raum geschrieben wurde und nach dem in einer Neuauflage seit 1961 wieder gesungen wird, gehört zu diesen Dokumenten. Es ist in Hufnagelnotation notiert, der Fortführung und Vergrößerung der Metzer Notation. Jedoch weist dieser Codex in seinen Notierungen noch Differenzierungen auf, die in die Quadratnotation schon lange Zeit vorher nicht mehr aufgenommen wurden. Zisterzienser, Franziskaner, Dominikaner, um ein paar Orden aufzuzählen, legten zudem auch noch einmal Hand an die Melodien, indem sie z.B. rigoros Melismen verkürzten. Um die Einheit des gregorianischen Gesanges wiederherzustellen, beauftragte Papst Gregor XIII. seinen Domkapellmeister, Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594), den Choral zu revidieren. Er tat es nicht, weil dieser großartige Musiker und Komponist vermutlich den Frevel erkannte, dafür machten das zwei seiner Schüler um so gründlicher: Anério und Soriano. Das Ergebnis der „Überarbeitung" wurde dann in der vatikanischen Hausdruckerei, der Medicaeischen Druckerei, 1614 veröffentlicht. Diese musikalischen „Barbarismen" sind bekannt unter der sogenannten «Editio Medicaea». „Damit schien das letzte Kapitel einer qualvollen Passion erreicht zu sein. Ein bis zur Unkenntlichkeit verstümmelter Leichnam wurde beigesetzt. Der Gregorianische Choral war tot. Doch der Tote sollte auferstehen" (Godehard Joppich).
III. Restauration
Die Romantik des 19. Jh. war beseelt von der Sehnsucht nach der Welt des Mittelalters. So ist es nicht überraschend, daß in der medizinischen Fakultät von Montpellier der im I. Kapitel, Abs. 9, erwähnte Codex Mp H 159 gefunden und ein Graduale Romanum nach dieser Handschrift erstellt wurde. Das war der Anfang des Suchens nach dem Ursprung der gregorianischen Melodien. Die größte wissenschaftliche Arbeit leisteten die Mönche des Klosters von Solesmes, eine von Prosper Guéranger 1833 neu gegründete Benediktinerabtei. Dieser war es auch, der den Anstoß zur Rückkehr zu den Quellen gab. Zwei Beweggründe, die Schönheit der ursprünglichen Melodien und die Faszination von rhetorischen Übereinstimmungen der verschiedensten Handschriften führten zur Herausgabe des ersten Bandes der „Paléographie Musicale" im Jahre 1889, der im Faksimile die Handschrift 339 von St. Gallen enthält. Hier ist die Geburtsstunde einer neuen Wissenschaft anzusetzen, der „Gregorianischen Paläographie" (Lehre der Schriftarten). Mit Hilfe einer neuen Technik, der Fotografie, konnte man die verschiedensten Handschriften vergleichen und auch bestimmen. Weitere Faksimiledrucke erschienen im Laufe der Zeit. Die Mönche von Solesmes gewannen unterdes durch ihre Forschungen viele Anhänger, Wissenschaftler wie Musiker.
Unter Papst Pius IX. erscheint jedoch im Jahre 1873 ein Neudruck der «Editio Medicaea». Das Regensburger Verlagshaus Pustet erwirkte sogar einen päpstlichen Erlaß, der dieser Ausgabe 30 Jahre lang den Gebrauch innerhalb der katholischen Kirche sichern sollte. Die Zahl der Anhänger der Mönche von Solesmes wuchs noch mehr, als man feststellte, daß Palestrina, wie oben schon erwähnt, gar nicht der Autor der «Editio Medicaea» war, auf den sich Pustet bei seiner Neuauflage berufen hatte. Da, wo man versuchte, Gregorianischen Choral nach den Ursprüngen wiederzugeben, stießen die Ausführenden immer wieder auf Unverständnis und Widerstand – hervorgerufen durch Verharren im unzulänglich verstandenen Traditionsbegriff -. So ließ im Jahre 1899 Perosi, zu der Zeit Chorleiter der Sixtinischen Kapelle, seinen Chor einige gregorianische Stücke singen, die er vorher aus alten vatikanischen Codices in die dem Chor bekannte Quadratnotation umschrieb. Von Chorsängern denunziert mußte er Rechenschaft vor Papst Leo XIII. ablegen. Er erklärte daraufhin, daß diese Gesänge in den Codices der Vatikanischen Bibliothek stehen, genuin sind und somit zum Repertoire gehören. Ähnliche Erfahrungen bleiben auch heute noch so manchem engagierten Kirchenmusiker nicht erspart. Erst Papst Pius X. veranlaßte durch sein Motu proprio im Jahre 1903, daß der gesamte Gregorianische Choral den Quellen gerecht restauriert wurde. Er setzte eine päpstliche Kommission ein, und im Jahre 1908 erschien das erste neue Graduale Romanum, an dessen Fertigstellung die Mönche von Solesmes den meisten Anteil hatten. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was geschah in den dreihundert Jahren nach der Herausgabe der «Editio Medicaea» 1614 und der Veröffentlichung des Graduale Romanum 1908 im Bistum Mainz und in Kiedrich? Erst einmal ließ der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Johann Philipp von Schönborn 1671 das «Graduale Moguntinum» drucken. Wie bei allen Neuausgaben weist auch diese Ausgabe dekadente Züge auf. Man wich von dem im Gregorianischen Choral üblicherweise notierten Vierliniensystem ab und stellte die kaum noch als Neumenzeichen erkennbaren Noten im Fünfliniensystem dar. Differenzierungen in den Neumen, die der Sprache und der Aussprache des lateinischen Textes dienen sollten, wurden rigoros weggelassen. Immerhin ging man bei dieser Ausgabe mit den ursprünglichen Melodien des Gregorianischen Chorals doch pfleglicher um, als das durch die beiden erwähnten „Musiker" in der «Editio Medicaea» geschah.
Zweihundert Jahre diente den Sängern in Kiedrich dieses sogenannte Schönborngraduale. Auch der Einführung eines deutschen Gesangbuches im Rheingau auf Anordnung der bischöflichen Behörde im Jahre 1787, der sich die Bevölkerung in ihrer Beharrlichkeit sogar mit Handgreiflichkeiten erwehrte, hielt dieses Graduale stand. Baronet Sir John Sutton ließ 1870, also drei Jahre vor der vom Verlag Pustet erstellten Neuausgabe der «Editio Medicaea», nach dem Schönborngraduale etliche Faksimiledrucke herstellen. Die Schönheit dieser Gesänge in ihrer musikalischen Einmaligkeit muß ihn derart fasziniert haben, daß er den fortwährenden Gebrauch dieses Gotteslobes in Kiedrich durch eine Stiftung würdigte und damit sicherte. Durch Dekret Papst Pius' X. wurde das durch die Mönche von Solesmes restaurierte Graduale Romanum 1908, wie bereits erwähnt, für die ganze katholische Kirche bindend. Lautlos haben sich die Sänger des Kiedricher Stiftschores den Anordnungen des Hl. Stuhls widersetzt. Der Gregorianische Choral erklang weiterhin in der Fassung von 1671.
Anton Halbritter, als geistlicher Chorregent der Amtskirche gegenüber gehorsam, fragte kurz nach seiner Amtsübernahme bei den Kiedricher Chorbuben in einem Brief vom 5.9.1932 an das Bischöfliche Ordinariat in Limburg wegen der Übernahme der Melodien in der Vaticana durch die Sänger vorsichtig nach; denn, und das sollte hier nicht verschwiegen werden, das Ordinarium wurde vom Chor in Kiedrich „medicaeisch" unter Ausschluß der Gemeinde gesungen, außerdem schwieg die große Orgel im Hochamt (so Halbritter in einem Bericht vom 30.7.1940). Das Ordinariat empfahl im Antwortschreiben vom 23.9.1932 eine behutsame Vorgehensweise zunächst in den feststehenden Gesängen (Ordinarium); die wechselnden Meßgesänge (Proprium) sollten weiterhin nach dem im Gebrauch befindlichen Suttonschen Nachdrucken des Schönborngraduale gesungen werden. Zur Korrektur des Ordinariums wurden die Codices A (Mainz, 13. Jh.) und B (Erfurt, 15. Jh.) herangezogen. Bei diesen Arbeiten verbesserte man auch einzelne Propriumsgesänge, indem aus der Vielzahl der Suttonschen Nachdrucke Noten ausgeschnitten und in drei Bänden an den betreffenden Stellen ein- oder überklebt wurden. Chorregent Halbritter hat hier der germanische Dialekt so überzeugt, daß er in einem Brief vom 25.2.1933 die Limburger bat, von Neuerungen im Choral in Kiedrich abzusehen und stattdessen basierend auf den genannten beiden Codices die gewohnte Kiedricher Fassung zu festigen. Das Bischöfliche Ordinariat entsprach seiner Bitte in einem Brief vom 9.3.1933. Durch die zusätzliche Heranziehung des im Faksimile erschienenen Trierer Graduales und des Graduales der Leipziger St. Thomaskirche, die ebenfalls im germanischen Dialekt notiert sind, konnten die Korrekturen noch genauer durchgeführt werden, obwohl diese beiden Codices den germanischen Dialekt nicht in seiner ursprünglichen Singweise wiedergeben. Ein Codex früheren Datums war noch nicht entdeckt. Anton Halbritters Arbeiten wurden in einem Gutachten vom 28.6.1940 durch den damaligen Limburger Domkapellmeister H. Papst gewürdigt:
„Es entspricht der Choralreform Pius' X., daß der Choral in Kiedrich künftig nur in der wiederhergestellten Form gesungen wird. Daß man bei der Durchführung dieser Absicht behutsam und mit pastoraler Klugheit zu Werke geht, ist Voraussetzung für ein ersprießliches Arbeiten. Jedenfalls erfüllt sich mit der Wiederherstellung des alten Chorals auch der Sinn der langen Tradition von Kiedrich, die in Deutschland einmalig ist."
Am 24. Juli 1940 antwortete das Bischöfliche Ordinariat auf dieses Gutachten Anton Halbritter:
„...sprechen wir Ihnen für die unter Ihrer Leitung durchgeführte Wiederherstellungsarbeit des alten Kiedricher Chorals unsere Billigung und Anerkennung aus. Es entspricht dem Willen der Kirche auf dem Gebiet des Choralgesanges, daß der Choral in Kiedrich künftig in der wiederhergestellten Fassung gesungen wird."
Im August des Jahres 1940 wurde Anton Halbritter infolge widriger Intrigen einiger Kiedricher Kirchenvorstandsmitglieder versetzt und seine wertvollen gregorianischen Arbeiten abgebrochen.
Das Bischöfliche Ordinariat Limburg erinnerte die beiden Chorregenten Gutfleisch und Weidmann in den vierziger Jahren und zu Beginn der fünfziger Jahre an die begonnene Restauration des Codex A. Chorsänger Josef Staab begann die Arbeiten erneut. Er redigierte die geplante Neufassung nach den vorhandenen Unterlagen. Der Codex Klosterneuburg 807 war inzwischen entdeckt, lag aber noch nicht im Faksimile vor, und so schloß Josef Staab seine Arbeiten 1953 ab, ohne diesen wichtigsten Zeugen des germanischen Dialekts herangezogen zu haben. Wie in Kapitel II erwähnt, wird nach dieser Vorlage seit 1961 wieder gesungen.
Da in der heutigen Zeit die Scriptoren und Druckereien bekannt sind, sollten sie hier nicht unerwähnt bleiben: Chorsänger Bruno Kriesel schrieb die Vorlagen zum neuen Codex und die Firma Kalle druckte sie im Siebdruckverfahren auf Initiative und besondere Unterstützung von Johann Heck.
IV. Die Gregorianische Semiologie
Nach 1950, also ungefähr 50 Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgaben des Graduale Romanum, entstand ein neuer wissenschaftlicher Zweig: die Gregorianische Semiologie (Lehre der Zeichen). In dieser Wissenschaft werden die verschiedensten Neumenzeichen für ein und dieselbe Tonfolge aufgeschlüsselt, die inneren Beweggründe der Schreiber der Neumen in Bezug auf den Modus und den Bibeltext charakterisiert. Godehard Joppich gebraucht in seinen Vorträgen, in denen er Anfängern wie Fortgeschrittenen den Reichtum der gregorianischen Gesänge begreiflich machen will, folgende neutestamentliche Parabel: Der Gregorianische Choral wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts zwar wiederentdeckt und wie oben erwähnt, neu herausgegeben, diese Auferstehung gleiche aber doch eher der Wiederbelebung des Lazarus. Wie der durch Jesus herausgerufene Lazarus ist der Choral noch „eingewickelt" in festumwundene Linnen einer zu unnuancierten Notation und einer wortabstrakten Interpretation, die auf einem zu vereinfachten Rhythmussystem beruht. Der Gregorianische Choral muß also noch durch die Semiologie aus diesen Leinentüchern herausgewickelt werden, so wie Jesus es mit Lazarus zu tun befahl.
Mit Hilfe der Neumenzeichen ist es möglich, den gregorianischen Choral in einem Licht zu sehen, das über Jahrhunderte im Verborgenen blieb. Die Verbindung der Neumen aus Codex Einsiedeln 121 und Klosterneuburg 807 mit der Neuauflage des «Graduale Kideracense» und notwendige melodische Berichtigungen anhand von Codex A und B sind dem Verfasser seit Jahren zu einem besonderen Anliegen geworden. Nur so kann eine dem gregorianischen Choral angemessene Interpretation zur Ausführung gelangen. Voraussetzung für die Interpretation der Gesänge sind bestimmte allgemeine Kenntnisse, die vom Erkennen der Zeichen her eine Symbiose mit der absoluten Beherrschung der lateinischen Sprache in ihrer spätantiken Fassung, mit der Formenlehre, mit der Liturgie, mit der Bibel herbeiführen muß, um die geistliche Größe zu erfassen, die dem Gregorianischen Choral eigen ist. Die beiden noch gesungenen Dialekte, der romanische wie der germanische, haben für die Interpretation von Gottes gesungenem Wort im weitesten Sinn untergeordnete Stellung. So gesehen beinhaltet der Gregorianische Choral nicht nur einfach Gesänge, sondern Erklingen von Sprache nach Regeln hoher rhetorischer Kunst.
Literatur und Quellen:
Graduale Romanum Schwann 1908 Graduale Romanum Solesmes 1974 Graduale Triplex Solesmes 1979
Paléographie Musicale première série VII, X, XIII, XIV, XV Bern 1971
Paléographie Musicale première série XI Bern 1972
Paléographie Musicale première série IV, XIX Bern 1974
Paléographie Musicale deuxième série II Tournai 1924
Monumenta Palaeograpica Gregoriana Codex lit. 6 Bamberg, Münsterschwarzach 1986
Codex 121, Kloster Einsiedeln, VCH, Acta humaniora 1991
Kommentarband zu Codex 121,VCH, Acta humaniora 1991
Codex A, Bibliothek Chorstift Kiedrich, 2. Hälfte des 14. Jh.
Graduale der St. Thomaskirche zu Leipzig, Bd. V und VII, Hildesheim 1967
Graduale Kideracense, Kiedrich 1961
Godehard Joppich, in Festschrift 40 Jahre Berliner Choralschola: Einige Gedanken zur Gregorianik, Berlin 1990
Luigi Agustoni, Gregorianischer Choral in: Musik im Gottesdienst, Regensburg 1983
Luigi Agustoni/ Johannes Berchmans Göschl, Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals, Regensburg 1987,
1992
MGG, Kassel 1989
Bruno Stäblein, Schriftbild einstimmiger Musik, Leipzig 1975
Beiträge zur Gregorianik, Regensburg 1992
Josef Staab, Das Kiedricher Graduale, musica sacra 1962
Chorstift Kiedrich, Archiv, Briefe
A. Halbritter, Neuhäusel, Brief an die Mitglieder des Kirchenvorstandes Kiedrich, Teil des Briefes: „Abschrift zur
Reformarbeit am Kiedricher Choral", 19.8.1940
Kiedricher Orgel
Eine von Deutschlands ältesten Orgeln anno 1500
Zweiundzwanzig Register zählt sie, verteilt auf zwei Manuale und Pedal: die Kiedricher Orgel, deren knapp 1.000 Pfeifen einen unverwechselbaren weichen und runden Klang haben.
Auch sie ist alles andere als alltäglich, erklingt sie doch in historischer „mitteltöniger“ Stimmung, die es nicht erlaubt, alle Tonarten auf ihr zu spielen. Aber jene, die auf ihr darzustellen sind, klingen viel reiner als unsere Ohren es sonst gewohnt sind.
Kompatibel zu diesem Instrument ist das kleine flandrische Orgelpositiv im Chorraum aus dem 17. Jahrhundert. Mit seinen fünf Registern, strahlend klar und dennoch unaufdringlich, streitet sie am letzten Sonntag eines Monats mit der großen Schwester um die Wette, wenn Chorregent (im Chorraum am Positiv) und Organist (oben an der großen Orgel) ein Werk für zwei Orgeln zum Besten geben.
Glocken St. Valentin
Glockengeläut St. Valentinus
Die Basilika St. Valentinus besitzt im Hauptgeläute vier Glocken.
Es ist das wohl älteste Geläut des Rheingaus, da die Gemeinde in den beiden Weltkriegen keine Glocken zu Rüstungszwecken abgeben musste.
Die größte Glocke (Ton C) mit einer Höhe von ca. 180cm und einem Gewicht von 70 Zentern stammt aus dem Jahre 1513. Sie läutet an den Werktagen um 12 Uhr.
Ebenfalls aus diesem Jahr stammt die "11-Uhr-Glocke" (Ton F), die morgens um 6:30 Uhr, mittags um 11 Uhr und abends um 19:45 Uhr läutet.
Die "Drei-Uhr-Glocke" (Ton D) ist ein Umguß aus dem Jahre 1862 und ersetzt eine damals gesprungene Glocke. Sie wurde früher am Freitag zur Todesstunde Christi geläutet.
Die Gemeindeglocke (Ton E) wurde 1389 gegossen und wurde früher zur Weinlese oder bei Brandgefahr geläutet.
Das Kiedricher Geläute bringt, neben der historischen Orgel und dem gepflegten gregorianischen Choral, die Gotik zum Klingen.
Basilika minor
Unsere Wirkungsstätte im sonntäglichen Choralhochamt: die durch Papst Benedikt erhobene Basilica minor St Valentinus und Dionysius.